Montag, 15. September 2008 / 14:23:53
Finanzkrise: Globale Umwälzungen erwartet
Bern - Die erneut heftige Welle, die die US-Banken derzeit erschüttert, wird nach Ansicht von Schweizer Ökonomen nicht die letzte sein. Noch sei kein Licht am Ende des Tunnels sichtbar. Die Krise dürfte zu einer Umgestaltung des globalen Finanzsystems führen.
«Die Entwicklung ist ohne Zweifel dramatisch», sagte Beat Bernet, Direktor des Schweizerischen Instituts für Banken und Finanzen an der Universität St. Gallen am Montag. Der Bankrott von Lehman Brothers und die Übernahme von Merrill Lynch durch die Bank of America seien weitere Etappen auf dem Weg aus der Krise.
Verzweifelte Brandbekämpfung
Noch einen Schritt weiter geht Hans Geiger, emeritierter Professor am Institut für schweizerisches Bankwesen der Universität Zürich. «Das US-Finanzhaus steht in Flammen. Was wir derzeit sehen, ist die verzweifelte Brandbekämpfung durch die amerikanischen Behörden. Es wird nicht die letzte Brandwelle sein.»
Bernet und Geiger gehen davon aus, dass die existenzielle Krise des US-Bankensystems bestenfalls zur Hälfte ausgestanden ist. Hunderte von Bankkonkursen dürften noch folgen. Im besten Fall werde die Krise noch einmal gut ein Jahr dauern. «Wir können froh sein, wenn bis Ende 2009 alle Brände gelöscht sind», sagte Geiger.
Klares Signal an die Märkte
Als Fanal an die Märkte bezeichnet UBS-Ökonom Daniel Kalt den Entscheid der US-Notenbank Fed, Lehmann Brothers in den Konkurs zu schicken. Nach der Übernahme der Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac durch den Staat und der Hilfe zur Rettung von Bear Stears zeichne das Fed nun «eine klare Linie in den Sand».
Das sei die einzig positive Botschaft nach den Sündenfällen in der jüngsten Vergangenheit, sind auch Bernet und Geiger überzeugt. «Ob und wie rasch die Märkte den grössten Stresstest seit Jahrzehnten bewältigen, bleibt abzuwarten», sagte Kalt. Geiger hat grosses Vertrauen in Fed-Chef Ben Bernanke, der bahnbrechende Arbeiten genau zu den aktuellen Problemen auf dem Finanzmarkt verfasst habe.
Neue Regulierungswelle droht
Bernet ist überzeugt, dass das globale Finanzsystem vor einer grundlegenden Umgestaltung steht. «Die Banken werden mit einem anderen Risiko-Verständnis aus der Krise herausgehen. Sie werden die Zusammenarbeit mit der Volkswirtschaft als Ganzes überdenken müssen. Und sie werden mehr Verantwortung übernehmen müssen».
Zu befürchten ist laut den beiden Bankprofessoren, dass eine neue Regulierungswelle über die Banken hereinbricht. Die Stellenverluste im Bankensektor und die Vernichtung von Kapital dürften die Politiker auf den Plan rufen. Regulierungen brächten jedoch selten die gewünschten Ergebnisse, wie der Sarbanes-Oxley Act von 2002 nach den Bilanzskandalen in den USA gezeigt habe.
Finanzplatz Schweiz als Gewinner
Die jüngsten Turbulenzen auf dem US-Finanzmarkt hätten keine direkten Auswirkungen auf den Finanzplatz Schweiz, sagte Bernet. Wegen der engen Verflechtung mit den Finanzmärkten, sei indirekt sehr wohl eine Wirkung spürbar. Langfristig könnten die Schweizer Banken sogar von der Krise profitieren, wenn es ihnen gelinge, sich als Hort der Stabilität in der Vermögensverwaltung zu profilieren.
Tiefere Spuren als erwartet dürfte die Finanzkrise laut Bernet in der Realwirtschaft hinterlassen. Es zeige sich bereits, dass die Wirtschaft vorsichtiger plane und agiere. Das Geld sitze nicht mehr so locker. Und das Risikoverhalten beginne sich zu verändern. Das werde das Wirtschaftswachstum dämpfen. Die Weltwirtschaft dürfte deutlich stärker an Schwung verlieren, als derzeit erwartet.
Chronologie der Finanzkrise:
Juni 2007: Alarmglocken an der Wall Street: Zwei Hedge-Fonds der New Yorker Investmentbank Bear Stearns straucheln, weil sie in grossem Stil in mit Immobilien besicherten Papieren engagiert sind.
Juli/August 2007: Auch in Deutschland geraten Banken wegen Fehlspekulationen am US-Immobilienmarkt in den Sog der Krise - etwa die Mittelstandsbank IKB, die Sachsen LB, die WestLB und die BayernLB.
September 2007: Besorgte Kunden stürmen die Schalter der britischen Bank Northern Rock. Die Regierung und die Bank von England garantieren die Einlagen, Northern Rock wird vom Staat übernommen.
Oktober 2007: Beim US-Finanzkonzern Citigroup bricht der Gewinn stark ein. Von nun an meldet ein grosses Finanzhaus nach dem anderen Milliardenabschreibungen und hohe Verluste. Bei der Investmentbank Merrill Lynch wird Konzernchef Stan O'Neal durch den Chef der New Yorker Börse NYSE, John Thain, ersetzt.
November 2007: Citigroup-Chef Charles Prince tritt ab.
Januar 2008: Die Schweizer Grossbank UBS meldet für 2007 wegen der Turbulenzen des US-Immobilienmarkts Abschreibungen von mehr als 18 Mrd. Dollar. Im April kommen weitere 19 Mrd. hinzu. In den USA muss der grosse Immobilienfinanzierer Countrywide von der Bank of America aufgefangen werden. Der Chef von Bear Stearns, James Cayne, verliert seien Job.
Februar 2008: Der US-Kongress billigt ein Konjunkturprogramm im Umfang von 150 Mrd. Dollar.
März 2008: Bear Stearns steht kurz vor dem Zusammenbruch und muss auf Druck der US-Notenbank einem Notverkauf an die Grossbank J.P. Morgan Chase zustimmen. Die US-Regierung springt mit Garantien ein.
April 2008: Die Deutsche Bank meldet für das erste Vierteljahr mit einem Minus von 141 Mio. Euro den ersten Quartalsverlust seit fünf Jahren.
Juli 2008: Die kalifornische Hypothekenbank IndyMac bricht zusammen. Die US-Hypothekengiganten Fannie Mae und Freddie Mac geraten immer mehr in Bedrängnis. In Spanien muss die Immobilien- und Finanzgruppe Martinsa-Fadesa Konkurs anmelden.
September 2008: Die US-Regierung übernimmt die Kontrolle bei Fannie Mae und Freddie Mac. Die Krise von Lehman wird immer akuter. Auch andere Finanzkonzerne wie die Investmentbank Merrill Lynch, der Versicherungsriese AIG oder die grösste US-Sparkasse Washington Mutual sind von einem heftigen Einbruch der Aktienkurse betroffen.
15. September 2008: Der «schwarze Montag»: Lehman muss Insolvenz anmelden, Merrill Lynch wird aufgekauft und AIG braucht Überbrückungskredite in Milliardenhöhe.
Winfried Kösters (Quelle: sda)
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