Donnerstag, 12. März 2009 / 11:42:31
Die schwarze Magie der Waffe
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Zwei Dramen, 8000 Kilometer und 10 Stunden auseinander. 26 Opfer, 2 tote Amokläufer, Angst, Leid und Fragen. So viele Fragen. Fragen der Angehörigen nach dem Warum, Fragen der Gesellschaft nach dem Wie und danach, wie solche Taten verhindert werden können.
Fragen, deren Antworten nicht die Eltern der Schüler in Winnenden, die Partner der Lehrerinnen, die Angehörigen der zufälligen Opfer auf dem Weg der Amokläufer und schon gar nicht die des Vaters eines 18 Monate alten Mädchens, das in Alabama auch erschossen wurde, auf irgend eine Weise so beantworten könnten, dass sie diesem Drama auch nur den geringsten Sinn verleihen würden.
Bis jetzt sind die genauen Motive beider Täter noch im Dunkeln. Und selbst wenn man sie kennen würde, wäre es für kaum jemanden möglich, Michael McLendon oder Tim Kretschmer zu verstehen. Denn sie lebten scheinbar in einem eigenen Universum, ohne Empathie für andere Menschen, im Glauben, dass ihre Schwäche nur durch die Vernichtung der Welt um sie herum kompensiert werden kann.
«Sein Gesicht war ausdruckslos, völlig ausdruckslos», sind die Worte eines Nachbarn, der McLendon während des Amoklaufes beobachtete. Auch Kretschmer scheint sehr emotionslos vorgegangen zu sein: Die meisten seiner Opfer streckte er mit Kopfschüssen nieder, effizient und gnadenlos. Zwei Todesengel, scheinbar wie im Auftrag einer höheren Macht unterwegs.
Die Herrschaft über Leben und Tod, die solche Mörder in der Zeit ihrer Tat ausüben, scheint sie in ihrer eigenen Wahrnehmung über ihre Opfer, ja sogar über die eigene Wut, Angst und Frustration, die sie zu der Tat getrieben hat, zu erheben. Unendlich wichtig dafür sind die Pistolen und Gewehre, welche für die Täter geradezu magisch sind.
Natürlich ist an einer Feuerwaffe in Realität überhaupt nichts zauberhaftes: Eine Treibladung explodiert, ausgelöst durch den Abzug, und sendet ein Projektil mit knapper Schallgeschwindigkeit auf seinen Weg zum Ziel. Doch der Effekt entspricht jener von schwarzer Magie aus Märchen und Mythen. Das Zucken eines Fingers tötet einen Menschen. Mit einer Bewegung, die nicht einmal eine Fliege zu töten vermochte, beendet ein Amokläufer eine menschliche Existenz.
Für den, der sich selbst bis dahin immer als verlacht, verfolgt und verachtet empfand, der glaubte, dass niemand auf ihn hört oder sich um ihn und das, was er machte kümmerte, muss dies ein unglaublicher Augenblick sein. Nun hören und schauen alle auf ihn. Nun fürchten ihn die Mädchen, die heimlich über ihn lachten (selbst wenn dies in Wirklichkeit nie der Fall war), nun zittern vor ihm jene, die ihn schikanierten, nun flüchtet vor ihm die ganze Welt, vor der ihm zu flüchten es nie gelungen war.
Der Gotteswahn, der von Amokläufern scheinbar Besitz ergreift, wenn sie schliesslich nicht nur vorbestimmte Opfer suchen, sondern auch zufällige Passanten erschiessen, ragt sogar aus dem Horror, den sie generell verursachen, noch heraus. Als würde mit jedem Opfer Appetit auf mehr entstehen, schiessen sie weiter, bis sie sich schliesslich meist selbst auslöschen – wie es auch bei Kretschmer und McLendon der Fall war. All dies wäre ohne Schusswaffen nicht möglich. Die Erhöhung über das Opfer, das niemals eine Chance hat, ist eine Belohnung für den Täter und mit jedem Mord sieht er sich höher oben und die Welt um sich tiefer unten: die schwarze Magie der Waffe tut seine unheilvolle Wirkung – vor allem, weil der bisher Machtlose endlich scheinbar unbegrenzte Macht spürt.
Zurück bleiben nach diesem Blutrausch nur Leid und Trauer. 28 Särge werden in den nächsten Tagen aufgebahrt werden, Tränen der Wut und Trauer werden fliessen und viele Fragen werden ein Leben lang vergeblich auf Antworten warten, die dem ganzen Schrecken und dem ganzen Schmerz einen Sinn verleihen könnten.
von Patrik Etschmayer (Quelle: news.ch)
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