Mittwoch, 14. März 2012 / 08:59:19
Belgisation: weshalb Unglücke auch politisch sind
Ein belgischer Reisebus fährt in der Schweiz 28 Menschen zu Tode, darunter 22 Kinder. Meine erste, spontane Reaktion als Mutter ist: Oh, nein! Wie grauenhaft! Meine zweite: Erstaunt mich nicht. Ein belgischer Reisebus - mit Betonung auf belgischer.
Die Frage ist nun: Was hat das mit Belgien zu tun? Weshalb sage ich: «Typisch, ein belgischer Reisebus?» Das ist unwissenschaftlich, rassistisch, spontan verständlich, aber politisch nicht korrekt. Wirklich?
Wir leben jeden Tag mit Unfällen und Unglücken. Die Zeitungen sind voller Schreckensmeldungen, so dass wir als normale Menschen nur noch mit Apathie reagieren können. Alle Unfälle werden wie Schicksalsschläge kommentiert. Der Busfahrer hatte vielleicht einen Sekundenschlaf, die Betreiber von Fukushima waren nicht genug ausgebildet, die belgische Müllabfuhr beim letzten Dioxin-Skandal wurde nicht kontrolliert usw. Niemand macht sich daran, die Struktur von Unfällen und Schicksalsschlägen zu untersuchen, es sei denn unterbelichtete Wissenschaftler, die jedes menschliche Versagen auf ein hormonelles Zusammenspiel zurückführen wollen.
Weshalb will das niemand mehr? Weshalb werden Unfälle individualisiert, dem sogenannten «menschlichen» Versagen zugeordnet? Weil dies den wirklich Verantwortlichen gerade richtig kommt. So ist nur irgendein XY schuldig, aber nicht ein System, welches Busfahrer nicht bezahlt, deren Ruhezeiten nicht kontrolliert und deren Gefährt je nach korrupten Beziehungen, nie auf verkehrstechnisch gutem Stand hält.
Dieses Muster ist mittlerweile Perfektion. Öltanker verpesten unsere Meere bis zu unserer Enkelgeneration? Kein Thema. Der bulgarische, nicht ausgebildete Kapitän unter griechischer Flagge war schuld. Wie wäre es, die Schuld in den fehlenden internationalen Regeln zu sehen? Nö. Internationale Regeln gelten nur dann, wenn Lohndumping-Freihandel, Korruption und Geldwäsche global organisiert werden können.
Verkehrsunfälle sind nur bedingt individuell, sondern strukturell. Sie hängen mit Preisen, Ausbildung, Infrastruktur etc. zusammen. Nur will dies die Verkehrslobby, die Lastwagenlobby, die Reisebusfahrerlobby nie zugeben. Bezogen auf den Busfahrer mit belgischem Nummernschild bedeutet dies: Die Ausbildung, die Kontrolle, die Fahrtechniken, die Ausstattung der Reisebusse sind in Belgien auf dem Niveau eines Drittweltlandes und drunter. Selbstverständlich nicht offiziell, aber inoffiziell. Denn Vorschriften müssen implementiert und von Zeit zu Zeit überprüft werden.
Stellen Sie sich vor: Belgien hatte anderthalb Jahre keine Regierung und niemand merkte es. Niemand hat sich auch wirklich beklagt: das Business as usual ging für die Hauptstadt der Europäischen Union weiter. Jeder normale Menschenverstand schreit hier: Aua. Wie geht das? In Europa? In einer Demokratie? Doch die Experten beruhigen uns und meinen: Kein Problem, wir wursteln einfach weiter wie bisher.
Unfälle, Verkehrstote? Eigentlich erstaunlich, wie wenig passiert, bedenkt man, wie die Europäische Union jedem Land seine ganz eigene Korruption erlaubt und inmitten einer Stadt sitzt, deren Bau-Miss-Wirtschaft jedem Menschen sofort ins Auge springt. «Bruxellisation» heisst der Begriff, den Stadtplaner brauchen, um die Katastrophe einer Stadtplanung, die Menschen verachtet, die baufälligsten Gebäude mit grässlicher Architektur, verkehrte Strassenführung, kurz alles falsch macht, was man in einer Stadt falsch machen kann.
Vielleicht sollte man für die europäische Verkehrsinfrastuktur auch einen Begriff «Belgisation» einführen, um festzuhalten, dass aus einem Land, in welchem alles möglich ist und nie auch nur ein einziger Verantwortlicher seine Strafe absitzen muss, ein Land, welches den europäischen Präsidenten stellt, nichts wirklich Gutes kommen kann ausser der Schokolade, Moules et Frites sowie ein gewisser surrealer Humor.
Deshalb darf ich wirklich und real rufen: «Typisch. Ein belgischer Reisebusfahrer» ohne die Pauke der politisch Korrekten über meinem Kopf geschlagen zu kriegen. Denn dieses «typisch» verweist auf die Verantwortung der Politik und der Politiker, statt immer die einzelnen Menschen zu prügeln.
PS: Ein belgischer Zusammenhang, der übrigens nie vergessen werden sollte: Der Richter, welcher den Kindervergewaltiger und -mörder Dutroux bei lebenslänglich nach ein paar Monaten in den 1990er begnadigte und freiliess, wurde von der europäischen Kommission und dem europäischen Parlament wenig später zum europäischen Richter befördert. Vive la Belgique!
Regula Stämpfli (Quelle: news.ch)
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