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1999: Die letzte Manifestation der Proteste gegen die Herrschaft globaler Konzerne in Seattle.

 
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Mittwoch, 11. November 2015 / 11:21:23

Die Gegenwart der Geschichte

1930 war der «Erste Weltkrieg» noch der «Grosse Krieg.» Erst im Rückblick wurde aus der «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» die Vorläuferin eines weiteren weltweiten Zivilisationsbruches. Momentan sind die Zeitschriften voll von «Eurokrise», «EU-Krise» und «Flüchtlingen». Dabei geht es um was ganz anderes.

Philipp Blom hat mit seinen zwei dicken Bänden: «Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914» und «Die zerrissenen Jahre 1918-1938» die entscheidenden Ansätze für die Weltpolitik seit 1999 geliefert. Bloms Werk - und dies ist als Aussage noch untertrieben - ist der Schlüssel zum Verständnis unserer Gegenwart.

Im Kapitel: «Jungfrau und Dynamo» erzählt er über die Angst, Nervosität und nationale Wiederaufladung in einem neuen, enorm beschleunigten technologischen Zeitalter. Die Analogie zu heute erschliesst sich eigentlich eins zu eins. Ebenso seine Betrachtungen zum «Kult der Maschine» - hier grüsst meine Kritik an der herrschenden Vermessungsideologie. Blom erzählt auch von den unglaublichen Männerneurosen, den Krankheitsbildern, der grassierenden Prostitution der damaligen Jahre - auch hier würde ein Gesamtschau unserer gegenwärtigen Weltgesellschaft Déjà-Vus hervorbringen. Grossartig auch die Analyse des Zerfalls des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn, der Kafkas Diktum: «Die Fesseln der gequälten Menschheit sind aus Kanzleipapier» erst recht verständlich macht. Gegenwärtig drängt sich der Vergleich dazu mit der Verrechtlichung und Bürokratisierung der Welt auf. In: «Der Sturm bricht los» erzählt Blom die regionalen Aufstände und deren blutige Zerschlagung durch die alten Mächte und sofort fühlen wir uns an beispielsweise an die heutige Türkei und andere europanahe Regimes erinnert, die Journalisten ohne Probleme einkerkern und «Oppositionelle» (die meist eigentlich «Demokraten» genannt werden müssten) vor aller unser Augen verschwinden lassen können.

Selbst Edward Snowden und Julian Assange liessen sich - anders erzählt - mit der Affäre Dreyfus durchaus in Zusammenhang bringen. Mit «Übermenschen und Untermenschen» könnten wir an die gegenwärtige völlig unkritisch geführte Diskussion beispielsweise über die Embryonenlagerung anknüpfen, die ähnliche politische Positionen von damals wiederholt. Die Verurteilungen hüben und drüben gleichen sich oft bis in dieselbe Wortwahl. Damals wie heute gibt es keine Spur einer Diskussion über die Dialektik der Aufklärung. «Pogrome des Intellekts» feiern in allen Medien Höchststand (erinnern Sie sich noch an Thilo Sarrazin?). Angriffe auf die redliche Vernunft, die sich übrigens damals wie heute mit einem grundsätzlichen, ikonographisch starken Frauenhass verbinden, der natürlicherweise von einer Mehrheit von Männern, sekundiert von unzähligen Mittäterinnen (neoliberale Brüste aus Beton), ziemlich populär verbreiten. Im Kapitel: «Der Krieg im Krieg» (Blom zum spanischen Bürgerkrieg) könnten Analogien zur Zerstrittenheit der fortschrittlichen Kräfte heutzutage gezogen werden. Also linke Positionen, die sich lieber selber zerfleischen, bis hin zur gegenseitigen Vernichtung, statt sich gegen den wahren Feind zu verbünden. Wir müssen nur einmal kurz schauen und realisieren: Die Nachbrände des spanischen Bürgerkriegs flackern an den Rändern Europas mittlerweile wieder sehr hell.

Es wäre wünschenswert, wir hätten zeitgeschichtliche Betrachtungen, die die «Eurokrise» oder die «EU-Krise» völlig anders einordnen würden. Im Grunde genommen geht es seit der Französischen Revolution 1789 um die blutige Auseinandersetzung zwischen Herrschenden und Beherrschten. Es geht auch um die Dialektik der Aufklärung, die einerseits technisierte, brutale Rationalität hervorbringt und andererseits das Versprechen auf die Emanzipation der Menschen.

Wer nicht soweit zurückgehen mag, darf ruhig auch erst 1999 einsteigen. Da manifestierten sich zum letzten Mal und unglaublich stark die internationalen Proteste gegen die Herrschaft globaler Konzerne in Seattle. Und zu unserem grossen Entsetzen verhandelten da plötzlich auch Leute auf der menschenverachtenden Seite, die ein paar Jahre vorher noch für die Bürger- und Menschenrechte demonstriert hatten. 1999 war das Jahr, in dem der globale Freihandel, d.h. des Wegfalls der Textilzölle, eine Finanz- und Wirtschaftspolitik über den Globus geworfen wurde, deren einziges Ziel es ist, sämtliche demokratischen, sozialen und ökologischen Fortschritte in Europa niederzubrennen, auf dass sie nicht ihr Feuerchen anderswo entfachen können. 1999 war auch das Jahr, in dem das MAI (Multilateral Agreement on Investment and trade) verhindert werden konnte. Ein Machwerk erster Güte, das nun im TTIP mit aller Ermächtigungsgesetzesgrundlage durchgeboxt werden soll. 1999 zeigten sich auch die ersten Auswirkungen der Aufhebung des Glass- und Steagall-Aktes durch Bill Clinton - der Aufhebung der Trennung zwischen Investitions- und Kreditbank, die von F.D. Roosevelt 1936 eingeführt wurde, um dem Kapitalismus den Weg zur Diktatur zu verbauen.

Kurz: Die Eurokrise ist keine EU-Krise. Sie ist ein weiteres Ereignis in der Geschichte zwischen Demokratie und Herrschaft, zwischen Revolution und Restauration. Die Eurokrise braucht auch eine ganz andere Chronologie als die lächerliche Fixierung auf politische Verträge. Entscheidend waren immer die Wirtschafts- und Finanzpolitik und deren Begleitung durch Wissenschaft, Technik und ideologisch geschickt konstruierte Narrative. Ansätze, diese gegenwärtigen «zerrissenen Jahre» wirklichkeitsnaher zu beschreiben, gibt es durchaus. Mit «digitalem Kolonialismus» hat sich Peter Sloterdijk in einem Essay eingeschaltet, mit «Das Kapital im 21. Jahrhundert» formuliert Thomas Piketty den Angriff des globalen Finanzkapitalismus, mit meiner «Vermessung der Frau» präsentierte ich die Kritik an den «weichen» Faktoren struktureller Wissenschafts- und Geschlechterpolitik, mit dem Versuch einer neuen europäischen Bewegung operiert Yanis Varoufakis mit dem politischen Aufbruch sozialer Widerstände etc. Es gibt sie also schon längst: Ansätze anderer Geschichtsschreibung der Gegenwart, die realitätsnah über die Entwicklungen berichtet.

Was indessen fehlt, ist die massenmediale Aufmerksamkeit, die angesichts der grossen gegenwärtigen Umbrüche Schlagzeilen produziert, wie die von heute aus Günter Verheugens Mund: «Die Brüsseler Bürokratie hat die Schweiz nie geliebt», ohne zu realisieren, dass hier nicht einfach «Brüssel» oder «die Schweiz» am Werke sind, sondern Umbrüche, die uns alle dazu aufrufen, statt weiter in mörderische Illusionen oder apokalyptische Visionen («Europa bricht auseinander») zu investieren, sich einer Zukunft zuzuwenden, die gegen den Widerstand globaler Finanz- und Herrschaftskräfte, demokratisch transformiert werden kann. Und sei dies nur damit angepackt, dass die unmittelbare Geschichte anders erzählt und beurteilt wird. Beispielsweise indem eine Demonstration einer «Pegida» von 5000 verwirrten Seelen nicht mehr mediale Aufmerksamkeit kriegt als über 200 000 Demonstrierende gegen TTIP.

Klar ist: Nur wer die Gegenwart auch anders denkt, lässt für die Zukunft hoffen. Oder wie es Erich Fried einmal formuliert hat: «Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.» Oder wie ich es auch schon an anderer Stelle betont habe: Es kömmt darauf an, die Welt so zu denken, dass sie von den Lebenden (Vielfalt) und nicht nur von den Toten (Kategorien) erzählt.

Regula Stämpfli (Quelle: news.ch)

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