Freitag, 26. Oktober 2012 / 11:08:59
Inquisition gegen Seismologen
Richter sind in gewisser Weise die letzte Instanz der angewandten Realität. Sie bestimmen mit ihren Urteilen mitunter, was als Ursache zu betrachten ist, was jemand hätte wissen sollen und sagen sollen. Wenn Sie dabei mit der Wissenschaft kollidieren kann aus der Realität Surrealität werden. Wie nun gerade in Italien.
Wir alle wollen Sicherheit. Und von Experten verlangen wir Ratschläge, auf die wir uns Verlassen können. Oder Prognosen, die so eintreffen. Nun ist es auf der wirklichen Welt, jener, die aus einem am äusseren Rand rotierenden, glühenden ca. 3500 km Radius umfassenden Eisen-Nickelkern, einem aus verschiedenen Mineralien bestehenden festen, aber wegen der Druckverhältnisse fliessfähigen Erdmantel von ca. 2800 km dicke und der Erdkruste, die wie ein knuspriges, dünnes Häutchen von ca. 40 km dicke auf dem Glühenden Chaos darunter aufschwimmt, besteht, für uns kleine Menschen unmöglich, die genauen Vorgänge im Inneren des Planeten und deren Auswirkung auf unseren Lebensraum wirklich zu prophezeien.
Dafür sind die Abläufe, die Wechselwirkungen und die Dynamiken des inneren unseres Planeten einfach zu komplex und zu unsichtbar und zu schwer zu interpretieren. So auch in L'Aquila, wo 2009 309 Menschen bei einem Erdbeben umkamen, das von den zuständigen Seismologen und Zivilschützern nicht vorher gesagt wurde.
Stattdessen hatten sie nach einer Serie von leichten Schwarmbeben gesagt, es deute eigentlich nichts auf ein grosses Erdbeben hin. Und das war auch so, denn nur in einem Prozent der Fälle folgen auf solche leichte Beben grosse Erdstösse. Zudem lässt sich der Zeitpunkt nicht voraussagen. Es können 2 Tage, es können 14 Tage sein. Eine Evakuation einer ganzen Region auf Grund solcher Wahrscheinlichkeiten und Zahlen ist unmöglich und wäre unverantwortlich. Spätestens nach der dritten Warnung ohne Beben danach würde kein Schwein mehr einen Pfifferling auf die Meldungen geben. Und wie lange würden die Menschen in den Zelten ausharren? Die ganze Woche, die es damals dauerte, bis das Beben kam? Aber sicher.
Trotzdem hat ein Richter sechs Seismologen und einen Zivilschützer wegen Totschlags zu je sechs Jahren Haft verurteilt. Er verurteilte Menschen, weil sie offenbar das Unmögliche nicht konnten. Die wahren Schuldigen an vielen der Toten liess er unerwähnt. Hier wurde nicht Recht gesprochen sondern gebrochen und verhöhnt. Toller Job, Richter Billi! Sie hätten auch bei der Inquisition geglänzt.
Denn er hat nichts anderes gemacht, als dem begreiflichen, aber unbegründeten Volkszorn nachgegeben. Verbrennt die Hexe, verjagt die Juden! Verurteilt die Wissenschaftler!
Ja, Menschen starben auf tragische Weise. Sie starben, weil bei einem Beben mit der Stärke 6.3 in einem als stark erdbebengefährdet eingestuften Gebiet Häuser einstürzten. Häuser, die von Bauherren unter Missachtung der Bauvorschriften nicht Erdbebensicher gebaut wurden oder die nicht nachträglich mit Sicherheitsmassnahmen nachgerüstet wurden. Sie starben unter Trümmern, die nicht hätten fallen müssen, wären die Gebäude ihrem Standort entsprechend errichtet worden und nicht deren Sicherheit tiefen Kosten und höherem Gewinn geopfert worden wären, derweil die Baubehörden offenbar beide Augen zudrückten, während sie die Hände vermutlich aufhielten.
Gerade öffentliche Gebäude, wie das total zerstörte Spital von L'Aquila, wurden hin gepfuscht, ja es habe nicht mal eine Betriebsgenemigung gehabt. Zudem seien 80% der Schulen der Region schwer beschädigt oder zerstört worden. Dies passierte nicht, wenn den Vorschriften für erdbebensicheren Bau Folge geleistet worden wäre. So wundert es denn auch nicht wirklich, dass gerade viele neue Gebäude einstürzten.
Sind daran etwa die Seismologen schuld? Oder nicht viel mehr die Bauunternehmer, die Baubehörden, die Justiz? Am Ende also Staatsanwalt und Richter, die mit diesem Prozess nicht zuletzt von ihrer eigenen Untätigkeit und Schuld ablenken? Schande, Schande, Schande!
Es ist beunruhigend, dass in einer aufgeklärten Demokratie ein Urteil gefällt wird, wie man es eher in einer Diktatur erwarten würde, die einen Sündenbock für ihre Versäumnisse braucht. So wie in China, nach einem Erdbeben jene verfolgt wurden, welche die Mängel bei den Bauwerken aufzeigten und nicht jene, die sie gebaut hatten. Aber vielleicht ist dies ja ein Hinweis darauf, in welche politischen Regionen Italien unterdessen abgedriftet ist.
Patrik Etschmayer (Quelle: news.ch)
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