|
|
Samstag, 19. August 2000 / 10:52:00
Täglich werden 6'000 Mädchen beschnitten
Frankfurt/Main - Vier starke Frauen drückten Hannah auf
den Boden, eine setzte sich auf ihre Brust. Mit einem
Knebel wurde das kleine Mädchen ruhig gestellt: Die
rituelle Beschneidung konnte beginnen. «Als unschuldiges
Kind wurde ich wie ein Lamm zum Schlachthof geführt»,
erzählt Hannah Yambasu aus Sierra Leone heute.
«Der Schmerz
war schrecklich und unerträglich.» Viel, viel Blut hat sie
verloren, an den seelischen und körperlichen Verletzungen
wird sie ein Leben lang tragen - wie mehr als 150 Millionen
Frauen weltweit.
Jeden Tag müssen sich nach Schätzungen von
Menschenrechtsorganisationen 6.000 Mädchen dem grausamen
Ritual unterziehen. Viele überleben es nicht. Den anderen
machen chronische Schmerzen und gefährliche Infektionen zu
schaffen, der Verlust der sexuellen Empfindungsfähigkeit,
lebensgefährliche Komplikationen bei Geburten.
Allein in
Deutschland sind nach Angaben von Terre des Femmes weit
mehr als 20.000 Frauen aus Ländern betroffen, in denen
solche Genitalverstümmelungen Brauch sind. Mehrere tausend
Mädchen seien auch hier in Gefahr, beschnitten zu werden.
«Genitalverstümmelung ist eine schwerwiegende
Menschenrechtsverletzung und in ihren psychischen und
physischen Konsequenzen für die Betroffenen nicht mit der
männlichen Vorhautbeschneidung zu vergleichen!»
protestieren die Menschenrechtler. Es handele sich daher
nicht um eine kulturelle Angelegenheit, in die sie sich
nicht einmischen dürften.
«Die Qualen, die Mädchen während
des Eingriffs ertragen müssen, sind nur der Anfang
lebenslangen Leids», setzt auch Unicef auf Aufklärung. In
einigen Ortschaften meldet die Weltorganisation erste
Erfolge: So beschlossen 31 Dörfer in Senegal, Mädchen nicht
mehr zu beschneiden.
Dennoch bleibt die Verstümmelung weiblicher
Geschlechtsorgane in rund 30 Ländern Afrikas sowie einiger
Länder Asiens und im Mittleren Osten verbreitet. In manchen
Regionen werden nach Angaben von
Menschenrechtsorganisationen bis zu 90 Prozent aller
Mädchen beschnitten, meist wenn sie zwischen vier und acht
Jahren alt sind. «Auch wo der Eingriff verboten ist,
besteht die Praxis häufig weiter und wird nur selten
verfolgt», beklagt Unicef.
Die Beschneidung werde in Familien oft als «Allheilmittel»
gesehen, berichtet der Berufsverband der Frauenärzte in
München. Sie steht für Tugend, Treue und die Ehre der
Familie. Manche meinen gar, mit dem Eingriff werde die
Fruchtbarkeit der Frau gesteigert. Andere rechtfertigen das
Ritual mit hygienischen und ästhetischen Gründen. «Das
eigentliche Motiv liegt jedoch in der Unterdrückung der
weiblichen Sexualität und der Kontrolle der Fruchtbarkeit
der Frau», betont Terre des Femmes. Die Ursprünge der
weiblichen Beschneidung bleiben nach Angaben von Amnesty
International im Dunkeln. Die Praxis sei in keiner der
großen Religionen verlangt, erstrecke sich über ethnische
und kulturelle Grenzen.
Oft in feierlichen Zeremonien werden die Mädchen zum Ort
ihrer Beschneidung gebracht. Wie stark sie beschnitten
werden, hängt von der jeweiligen Tradition ab. Im
wesentlichen gibt es drei verschiedene Formen, bei denen
die Klitoris und die Schamlippen zu unterschiedlichem Grad
entfernt werden - fast immer ohne Betäubung. Bei der
extremsten Variante, der Infibulation, nähen die
Beschneiderinnen die Wände der Schamlippen mit Dornen oder
Darm zu. Um eine Öffnung für Urin und Menstruationsblut zu
erhalten, wird ein Holzstäbchen oder Strohstück in die
Mitte der Wunde gesteckt.
Die hygienischen Umstände sind meist katastrophal: Mit
Scheren, unsauberen Messern, Rasierklingen oder
Glasscherben gehen die Beschneiderinnen zu Werke. Die
Zigeunerin, die sie beschnitt, habe eine zerbrochene
Rasierklinge benutzt, an der noch Blut von der letzten
Verstümmelung klebte, erzählt das somalische Model Waris
Dirie in seinem Buch «Wüstenblume».
«Die Frau spuckte
darauf und wischte sie an ihrem Kleid ab.»
Dirie flüchtete nach London und ließ sich operieren, um
wenigstens einigermaßen schmerzfrei leben zu können. Auch
in deutschen Praxen müssen die Frauenärzte für helfenden
Operationen gewappnet sein. Der Deutsche Ärztetag hat daher
entsprechende Aus- und Weiterbildungsprogramme gefordert.
Die Berufsvereinigungen verlangen außerdem, dass die Ärzte
alles tun, um drohende Beschneidungen abzuwenden, die in
Deutschland dem allgemeinen Strafrecht unterliegen.
WHO-Informationen zufolge habe die Zahl der Beschneidungen
in Europa, Kanada und den USA jedoch sogar zugenommen,
berichtete die Bundesregierung bereits vor drei Jahren.
«Das Problem in diesen Fällen ist grundsätzlich, das man
Zeugenaussagen braucht», sagt Sybille Golkowski von der
Ärztekammer Berlin. Die Familien, die Beschneidungen in
Auftrag geben, äußern sich nicht, die betroffenen Mädchen
und Frauen stellen sich kaum gegen die eigene
Verwandtschaft.
Wegen angeblicher Verstümmelung einer Frau
hatte die Kammer vor rund einem Jahr Konsequenzen für einen
Arzt gefordert. Eine Beschneidung habe ihm jedoch nicht
nachgewiesen werden können, heißt es in der
Senatsverwaltung. Mehr als Verdachtsmomente habe es nicht
gegeben.
ew (Quelle: AP)
Artikel per E-Mail versenden
Druckversion anzeigen
Newsfeed abonnieren
In Verbindung stehende Artikel:
Waris Dirie erhält Preis
Montag, 8. Juli 2013 / 15:49:50
[ weiter ]
Somalische Frauenrechtlerin Waris Dirie verschwunden
Freitag, 7. März 2008 / 17:11:42
[ weiter ]
|